Ausstellung Margret Erichsen-Worch
Margret Erichsen-Worch
Ich gehe beinahe täglich über den Bordesholmer Friedhof. Seit nunmehr 5 Jahren habe ich immer die gleichen zwei Gedanken: Der eine lautet: irgendwo hier war das Grab meiner Urgroßmutter, aber wo? Und der andere: warum hat diese Frauen-Skulptur keine Hände?
Die Skulptur heißt “In der Veränderung der Zeit” oder auch “Weiter Weg” und ist entstanden als künstlerischer Nachhall auf den Fall der innerdeutschen Mauer und die Zeit danach. Ein bewegendes Zeitereignis jüngerer Geschichte, dem Margret Erichsen-Worch durch Zufall bewohnte.
Margret Erichsen-Worch kam inmitten des letzten Krieges als 10-jährige nach Bordesholm. Sie ging hier weiter zur Schule, absolvierte eine Lehre als Apothekenhelferin, lernte Jürgen Worch kennen, heiratete ihn und gründete mit ihm eine Familie. Sie folgte ihrem Mann zweimal nach Belgien, wo er als Lehrer arbeitete und beiden kamen Ende der 90er Jahre zurück nach Bordesholm, um zu bleiben.
Die Geschichte hinter diesen reinen Eckdaten ist größer, ganz normal und auch furchtbar tragisch. Sie spricht von Liebe, Gradlinigkeit, Glaube, Krankheit, Tod, unterdrückten Gefühlen, Schweigen, Lärm und auch Fremdsein in sich und mit anderen. Ein ganzes, gelebtes Leben eben.
Schon während der ersten Recherchen fand ich es beeindruckend, dass eine Frau ihrer Generation, der Kriegskindergeneration zunächst die biografischen Eckdaten weiblichen Lebens erfüllte, um dann noch einmal ihren eigenen Weg zu gehen, indem sie Bildhauerei studierte.
Wer sich der Kunst hingibt, ist Gefäß einer transpersonalen Kreativität, die ihren Ausdruck sucht. Die ganze Künstlerin wird selbst zum Werkzeug dessen, was durch sie sprechen will. Oder dessen, was sie eigentlich sagen will.
Der Schriftsteller Jorge Luis Borges sagt:
“Die Aufgabe der Kunst ist es zu verwandeln, was ständig mit uns geschieht, um all diese Dinge in Symbole zu verwandeln […], in etwas, was im Gedächtnis des Menschen verbleiben kann. Das ist unsere Pflicht. […] Man empfängst kontinuierlich Dinge von der Außenwelt. Diese müssen transformiert werden und schließlich werden sie auch transformiert. Diese Offenbarung kann jederzeit geschehen. “
Die Bildhauerei ist es, die aus Gedanken, Gefühlen, Sehnsüchten, Schwingungen und inneren Prozessen Formen gebiert, indem sie aus einem Stück Materie etwas Anderes formt, es in eine andere Form gibt und dreidimensional werden läßt. Ganz anders als die Malerei, die ein Motiv nachgerade einsperrt auf Leinwand, befreit die Bildhauerei die Form von überflüssigen Gestein (oder was auch immer für ein Material gewählt wird) und füllt anschließend sichtbar Platz aus. Man kann drumherum gehen, man muss sich sogar selbst bewegen, denn das bildhauerische Werk ist oft zu groß und zu schwer, um es von seinem Platz zu nehmen.
Die Kunst wird zur Sprache der Künstlerin, löst mitunter auch die gesprochene Sprache ab.
Und so verstehe ich auch das Werk von Margret Erichsen-Worch.
1969 begann sie ihre erste bildhauerische Arbeit mit einem Kindskopf aus weißen, französischen Sandstein. Hans- Dieter Sommer schreibt:
”Margret Erichsen-Worch gibt in dieser Arbeit eine minimalistische Perspektive zu erkennen, die ihre Energie und Glaubwürdigkeit aus dem Erbe Brancusis [ihrem künstlerischen Vorbild. Anmerkung M.B.] speist. Ihr Ziel ist ein Harmoniebegriff, der sich in der formalen Vollendung einer Kreisform äußert. Eine unversehrte Geschlossenheit, die nur an den äußeren Grenzen des Steins, an die Ahnung einer figürlichen Aussage herangeschmirgelt wird, aber wie ein Keimling noch weitgehend unter einer schützenden Hülle verborgen bleibt.”
Drei Jahre nach der Geburt ihres Sohn Phillip, markiert also dieser auf das wesentliche reduzierte Kinderkopf die Geburt der Bildhauerin Margret Erichsen-Worch.
Zunächst lernt sie ihr Handwerk, probiert verschiedene Materialien und Formen aus, sucht und findet ihre eigene Bildsprache.
In den 70er Jahren sind es immer wieder auch Flügelformen, die sie erschuf.
Die Serie Flügel 1 bis 3 von 1976 zeigen eine Entwicklung im Thema.
Flügel 1 kombiniert die sanfte Form des Flügelschlages, um dann unbearbeitet wieder in seine ursprüngliche Form zurückzufallen.
Flügel 2 ist präzise und sorgfältig durchgearbeitet, die Rundungen nahezu perfekt, so dass man den Flügel beinahe sofort benutzen könnte- wäre da nicht das kreisrunde Loch in der Schwinge
Beide Stücke sind aus rotem Marmor, dessen Maserung wie lebendiges Fleisch wirkt.
Und der dritte Flügel aus der Serie ist aus dem edlen, schneeweißen Cararramarmor, in seiner Form ebenso perfekt, dieses Mal mit Schwerpunkt auf die Handschwingen. Aber dieser Flügel steht sozusagen “Kopf”, er bohrt sich an seinem Ansatz in den Grund. Ist hier etwa ein Engel abgestürzt und nur ein Stück seines Flügels schaut noch hilfesuchend heraus?
Warum sind es jeweils einzelne Flügel? Mit immer nur einem Flügel kommt man nicht vom Boden. Auch nicht mit ungeraden dreien.
Flügel Nummer 2 mit dem Loch in der Mitte ist für mich der faszinierendste aus der Reihe. Ist es ein Symbol des Schutzes im Sinne von “unter die Fittiche” nehmen und man kann vorsichtig und sicher durch das Loch auf die drohende Gefahr gucken oder ist es einfach nur ein sehr perfekter, aber letztendlich unbrauchbarer Flügel, der einen niemals forttragen wird?
Das liegt bei Ihnen.
Die Suche nach Schutz und Geborgenheit waren dominierende Themen im Leben und Werk von Margret Erichsen-Worch.
Die Serie “Wunsch” (1979- 1984) nahm das Thema Flügel wieder auf. Dieses Mal sind die Flügel zu zweit und wie Arme. Sie halten wie in einer Wiege eine oder auch mehrere Figuren in ihrem Inneren. Rundherum geborgen in weichen Linien gebettet, die haltende Figur ganz Flügelschwingen, der ganze Körper wölbt sich über die kleine zusammengerollte Figur zusammen, der angedeutete Kopf der haltenden Figur sieht zu der kleinen Figur herab. Konzentriert, unabgelenkt und ausschließlich.
Was ist ein Wunsch? Der Wunsch ist ein Begehren oder Verlangen nach einer Fähigkeit, ein Streben oder eine Hoffnung auf eine Veränderung der Realität.
Die Realität holte Margret Erichsen-Worch inmitten der Arbeiten zu dem Thema Wunsch ein, denn sie konnte eines ihrer eigenen Kinder nicht vor dem Tode bewahren.
In der Folge wandte sich die Künstlerin einem weiteren Kapitel ihres Schaffens zu. In Portrait und Figur kam sie dem Menschen noch näher, nicht nur seinem Innersten, sondern handfest und modellierend dem leibhaftigen Modell, dem atmenden Wesen. Die Fertigkeiten, die sie dabei erlangte, flossen vom Präzisen wieder ins Abstrakte oder werden gleich miteinander kombiniert wie in dem Werk “eingestuft” (1995). Die eine Gesichtshälfte ist das Porträt eines Mannes, während seine andere Gesichtshälfte aus abstrahierten Treppenstufen besteht. Das eine sichtbare Auge ist geschlossen, das andere durch die Stufen verstellt, der Hinterkopf fehlt wie abgeschnitten.
Eingestuft zu werden, ist ein passiver Vorgang- jemand tut es über den Kopf hinweg. Die Treppenstufen sind eine weitere Steigerung der Passivität, denn man kann darauf hermuspazieren, einfach so.
Oder in dem Werk, und damit schließt sich für mich dieser Kreis, “In der Veränderung unserer Zeit” oder “Weiter Weg”, die Skulptur, die zum Fall der Mauer und der folgenden Zeit erschaffen wurde und nun am Grab von Margret Erichsen-Worch aufgestellt wurde.
Und noch einmal die Frage vom Beginn: warum hat diese Figur keine Hände? Dass es nicht am fehlenden Können liegt, hat die Künstlerin an ihrem Werk “Gesetzmäßigkeit” gezeigt.
Die Bildhauerin, deren Arbeit auf Hände angewiesen ist, verweigert ihrer Skulptur ausgerechnet das omnipotente Werkzeug.
Gerade die Hände fehlen,…das, was den Menschen zum Menschen macht, ihn hand-lungsfähig macht, jemanden die Hände reichen, helfende Hand, die Hand Gottes, Hand aufs Herz, Hand drauf, …
Dann die Füße fest im Boden verankert, sie können keinen Schritt tun, der Weg ist noch ein undefinierbarer Klumpen, der erst durch das Gehen noch geformt werden muss.
Margret Erichsen-Worch erklärte es selbst so:
“Am Beispiel eines jungen Mädchens, das die neu angebrochene Zeit Zeit überdenkt, wollte ich durch sie ihre Ungewissheit sichtbar machen:
Wohin führt uns der neue Weg? Ausdrucksmittel: die Füße stecken noch in der Erde, der Weg “wohin” noch unbekannt. Es fehlen Hände! Armstumpen sollen hinweisen auf die Stoßkraft, die gebraucht wird, um Mauern – zum Anderen- aufzustoßen. Die Armführung erstreckt sich nach oben, himmelwärts, zukunftsbeschwörend. Der Kopf neigt sich hinauf zum Himmel, düstere Gedanken abwehrend, von dort, woher das Licht kommen soll, Hilfe erwartend, wo die Werte, die Unbegrenztheit, noch Hoffnung zulassen. Auf Antwort wartend: Wohin führt uns dieser Weg?”
Margret Erichsen-Worch ist in ihrem Leben und ihrer Kunst viele Wege gegangen. Manche wurden ihr aufgewungen, manche wählte sie freiwillig. Und für uns, die wir hier jetzt stehen, ist ihre Kunst auch Beispiel dafür, dass man seinem Ruf folgen soll und auch muss. In allem geht es um Ausdruck und Sprache, um das Innere, dass im Außen sichtbar gemacht wird, auch wenn zunächst nichts weniger Sprache sein kann als ein Stein.
Was man über ihr künstlerisches Vorbild Constantin Brâncuși gesagt hat, gilt auch für Margret Erichsen-Worch selbst:
“Aus dem rohen Stoff schuf er (in diesem Fall sie ) Formen von subtiler Ebenmäßigkeit und Stille. Viele seiner bedeutenden abstrakten Arbeiten resultieren aus einem langen Prozess der Meditation und innerer Versenkung, sie veranschaulichen die Überzeugung des Künstlers, dass “das Reale nicht die äußere Form ist, sondern die Essenz der Dinge”
Schließen möchte ich mit dem Gedicht von Elisabeth von Ulmann, das von nun an mein dritter Gedanke sein wird, wenn ich meinen Weg über den Friedhof gehe:
Lass uns zusammen nach Utopia gehen,
wo die Menschen
einander verwöhnen,
einer den anderen
hin und her
Mann Silbervogel
Frau Platinkomet
wo es ein Tun sein wird
unendliches wirkendes
webendes Tun
einer dem anderen
wo nicht Zorn, Neid, Besitzstolz
Wohnrecht hat
in Utopia
Über das niemand lächeln sollte
Vielen Dank dafür, dass ich mich mit Margret Erichsen-Worch zu diesem Anlass beschäftigen durfte.
Eröffnungsrede zur Ausstellung April 2015, Maike Brzakala